Ein Gespräch mit dem ARTIST IN RESIDENCE

Auf ein Wort, Herr Appl!

Benjamin Appl und die Jenaer Philharmonie, Foto: JenaKultur, Christoph Worsch

Lieber Herr Appl, lassen Sie uns über den zweiten Teil Ihrer Zeit als ARTIST IN RESIDENCE bei der Jenaer Philharmonie sprechen. Sie haben am 17. März die Orchesterlieder von Hugo Wolf gesungen. Was bedeuten sie Ihnen?

Die Orchester­lieder werden nicht häufig aufgeführt. Ich freue mich, dass Simon Gaudenz und die Jenaer Philharmonie sich getraut haben, diese Lieder auf das Programm zu setzen. Das Schöne ist, dass sie zum großen Teil vom Komponisten selbst orchestriert wurden. Das zeigt auch, dass Hugo Wolf, der eigentlich nur als Klavier­lied­komponist bekannt ist, auch über ein unglaubliches Können in der Orches­trierung verfügte. Es ist eine Orchester­sprache zwischen Wagner, vielleicht zwischen Schubert, bis hin schon zu Ravel, dessen späte Lieder ich im zweiten Teil des Programms gesungen habe. Hugo Wolf hat eine ganz eigene Musik­sprache, und gerade die etwas langsamen, in sich gekehrten Stücke sind, glaube ich, unglaublich himmlisch. Also, es ist eine Freude, sie anzuhören, und den Gesang in die Akkorde des Orchesters hineinzulegen. Diese Orchester­sprache erzeugt unglaubliche Spannungen, aber sie hat nicht diese Schwere wie bei Wagner, sondern sie leuchtet immer, sie hat eine gewisse Durch­lässigkeit, gerade in den Piano-Passagen. Und das ist etwas, was ganz wunderbar zu singen ist. Und das ist hoch­emotionale Musik, mit der ich mich sehr verbinden kann.

Hugo Wolf hat ca. 300 Lieder für Sing­stimme und Klavier komponiert, aber nur ganz wenige hat er orchestriert. Wie würden Sie das erklären?

Ja, Hugo Wolf war nicht die einfachste Persönlichkeit, und er hat, glaube ich, darunter gelitten, dass er sich mit seinem künstler­ischen Schaffen von anderen Komponisten um ihn herum absetzen musste. Ich glaube, er sah sich selbst als Lied­komponist, als Klavier­lied­komponist. Er hat diese Nische auch gefunden, weil er, in allem, was er geschrieben hat, ein sehr akribischer Mensch war. Ich glaube, er konnte das, was er ausdrücken wollte, am besten mit Sing­stimme und Klavier umsetzen. Und er war so dem Wort und der Behandlung des Wortes zugewandt, dass er in dieser kleinen Form seine größte Ausdrucks­möglichkeit gefunden hat.

Sie haben mit der Jenaer Philharmonie und Simon Gaudenz Hugo Wolfs Orchester­lieder aufgenommen. Die CD wird ab Mai über den Schall­platten­vertrieb jpc erhältlich sein. Was können Sie uns über die Zusammen­arbeit mit der Jenaer Philharmonie und Simon Gaudenz erzählen?

Es waren schwierige Bedingungen im Herbst 2020, und wir mussten zu dieser Zeit den ganzen Saal nutzen, d. h. jede Position in den Streichern hatte ihr eigenes Pult, und dann 2 m Abstand bis zum nächsten. Jetzt nach 2 Jahren war es sehr angenehm, das ganze Orchester auf der Bühne wieder in einer normalen Aufstellung zu haben. Das stellte uns wirklich zu Beginn der Aufnahme vor erhöhte Heraus­forder­ungen, mit denen wir zu kämpfen hatten. Was aber sehr schön war: Es gibt hier eine gewisse Ruhe, wenn man nach Jena kommt, das Hotel ist gleich um die Ecke, ich konnte Spazier­gänge machen zwischen den Aufnahme-Sessions. Es ist einfach sehr entspannt hier, kaum Verkehr, man kommt hier einfach ein bisschen zum Stehen. Und das sind ganz wunder­bare Beding­ungen für eine CD-Aufnahme und dement­sprechend hatte ich sehr schöne Tage hier. Es ist für mich wichtig, dass man in einer solchen Situation eine gewisse innere Ruhe besitzt und in sich fühlt. Mit dem Orchester selbst und mit Simon war die Zusammen­arbeit einfach toll. Wenn ich gefragt habe: Können wir diese Phrase noch mal machen, da gab es einfach kein Murren, oder „Wir müssen jetzt weiter.“ Ich fand hier immer ganz große Unter­stützung und ein positives Mitein­ander. Und das war wirklich sehr schön!

Benjamin Appl und Konzertmeister Marius Sima, Foto: JenaKultur, Christoph Worsch

Sie waren im Kammer­konzert am Sonntag, dem 20. März, mit Liedern von Barber, Poulenc, Britten, Quilter, Ralph Vaughan Williams u.a. zu hören. Welche Programm-Idee lag diesem Kammer­konzert zugrunde?

Es ist gar nicht leicht, ein Programm für Bariton und kleine Orchester­besetzung zusammenzustellen. Es gibt viele Bear­beitungen, aber mit Original­versionen ist es ganz schwierig. D. h. das Material ist eh schon limitiert. Was ich spannend finde an meiner Zeit als ARTIST IN RESIDENCE – das ist, dass ich hier sehr viel Reper­toire singe, das nicht sehr häufig aufge­führt wird. Es ist für mich ein großes Geschenk, dass ich hier Sachen singen kann, die sich vielleicht nicht so gut verkaufen lassen, sondern Programme gestalten kann, in denen es wirklich um die Musik geht. Und dieses Kammer­konzert war, glaube ich, die größte Heraus­forderung an das Publikum, vielleicht kannte es eine oder zwei Nummern, aber es war sehr viel Unbekanntes dabei. Und es bildet natürlich, bis auf den Poulenc und Schubert, auch meine zweite, meine englische Heimat mit Liedern von Ralph Vaughan Williams, Quilter und Britten ab. Diese Lieder wollte ich dem Jenaer Publikum unbedingt vorstellen. Dann gab’s natürlich diese beiden Poulencs, diese beiden Zyklen, einer ist fast ganz orchestral, da hab’ ich kaum etwas zu singen, nur einen Non­sens­text, und die „La Bestiare“ ist einfach ein ganz schrulliges Stück von acht Minuten und sechs Liedern, das find’ ich ganz spannend, wie Poulenc es versteht, diese Tiere, das Gefolge des Orpheus, in nur einer Minute darzu­stellen, zu beschreiben weiß. Dieses Konzert war aber auf alle Fälle eine Heraus­forderung, weil es ein Programm mit viel Unge­wöhn­lichem war. Es freut mich sehr, dass sich das Publikum in der Jenaer Rathaus­diele darauf eingelassen hat und offen für Neues war.

Ich möchte gern auf Ihre Aufnahme von Schuberts „Winterreise“ zu sprechen kommen. Vielleicht können Sie etwas sagen zu Ihrer Auffassung der „Winterreise“ als Zyklus und wie Sie den „Wanderer“ auffassen, wie Sie ihn gestalten?

Die Winterreise ist natürlich ein Meilen­stein für jeden Sänger. Wir müssen uns immer fragen, warum wir einen Zyklus wie die Winterreise aufnehmen und was wir damit aussagen wollen. Wir stehen gerade im Lied­bereich immer vor einem Zwiespalt: Auf der einen Seite gibt es diese lange Tradition, und unser Publikum ist sehr tradi­tionell und kennt gewisse Referenz­aufnahmen, auf der anderen Seite bilden Musik und Text ein emo­tionales Konstrukt, das zeitlos ist und das wir natürlich auch im 21. Jahr­hundert unserer Zeit gemäß darstellen und erfassen müssen. Auf der einen Seite wollen die Menschen zum Beispiel Fischer-Dieskau hören, wollen, dass das Lied so interpretiert wird wie bei ihm, auf der anderen Seite wollen sie natürlich auch keine Klone. Und somit befinden wir uns als Künstler und als Publikum immer in einem Zwiespalt: Was wollen wir? Wollen wir Leute, die Inspi­rationen für neue Aufnahmen mitbringen oder wollen wir einen Fort­bestand der Tradition, die ganz nah an den großen Referenz­aufnahmen bleibt. Das ist eine ganz schwierige Frage, die wir uns selbst als Publikum oder als Künstler stellen müssen.

In diesen letzten Wochen, in dieser schwierigen Situation, in der uns politische Nach­richten alle sehr besorgt stimmen, in der wir viele Gedanken, viel Energie darauf verwenden, da merke ich, wie diese Berichte uns als Künstler, unsere Stimmung und unsere Inter­pretation beeinflussen. Und ich glaube, dass sich unter solchen Bedingungen, wie wir sie gegen­wärtig erleben, die Inter­pretation und die Rez­eption von Musik verändern. Ich hatte kürzlich einen Balladen-Abend mit Kit Armstrong, und wenn man solche Balladen singt wie Die beiden Grenadiere von Schumann oder Belsazar, da ist die emotionale und gedankliche Welt anders auf sie eingestellt, als wenn ich das vor vier Monaten gesungen hätte. So verändern sich natürlich auch die Inter­pretationen mit den Zeit­umständen, unter denen wir leben, mit der Ideologie, mit der Geschwin­digkeit, mit der wir unser Leben leben. Und so verändern sich, manchmal ober­flächlich, manchmal sogar tief­greifend, unsere Inter­pretationen und auch die Art und Weise, wie wir Lieder aufnehmen.

Benjamin Appl und Generalmusikdirektor Simon Gaudenz, Foto: JenaKultur, Christoph Worsch

Ich hatte mich relativ kurz­fristig entschlossen, die „Winterreise“ aufzunehmen. Die Aufnahme entstand Anfang Oktober in London, die Planungen begannen nur wenige Wochen zuvor Ende August: Da musste alles organisiert werden: Raum, Klavier usw. Der Grund dafür war, dass ich mit der BBC einen Film mit der „Winterreise“ gedreht hatte, der dann Ende Februar herauskam. Und ich wollte diese Veröf­fentlichung im Fernsehen mit einer CD begleiten. Das sind zwei ganz unter­schiedliche Aufnahmen: Die „Winterreise“ der CD vom Oktober 2021 dauert ein bisschen länger als 69 Minuten. Die Live-Aufnahmen für den Film wurden Anfang November 2021, also einen Monat später, gefilmt. Diese „Winterreise“ hat eine Länge von fast 75 Minuten. Dass die zweite Aufnahme eine ganz andere „Winterreise“ sein würde, war nicht beabsichtigt. Für mich ist dieses ein sehr besonderes, hoch emotionales Werk, was jeden Tag auch anders ausfallen kann. Der Wanderer kann jeden Tag einen anderen Weg gehen, er kann in jedem Moment an einer anderen Weg­kreuzung abbiegen, kann andere Richtungen einschlagen. Er ist ein mutiger Mann, er ist jemand, der selbst sein Geschick in die Hand nimmt. Auch wenn immer äußerliche Natur­beschreibungen im Vorder­grund stehen, so ist es doch eine sehr nach innen gewandte Reise durch die dunkelsten Ecken in seinem Denken, die er wirklich ergründet. Diese Reflex­ionen gehen wirklich ganz, ganz tief, tiefer als bei anderen Menschen. Der Wanderer ist eben anders als andere und will sein Leben nicht verschlafen. Deswegen eckt er vielleicht auch in der Gesellschaft an oder passt nicht dazu, fühlt sich nicht verstanden. Er wird gar nicht erkannt als jemand, der so tief­gründig ist, sondern vielleicht einfach nur als Spinner, als Außen­seiter abgetan. Da kommt so viel zusammen, mit dem sich jeder auch heute noch mehr oder weniger identi­fizieren kann. Ich glaube, die „Winterreise“ ist deswegen so ein spannender Zyklus, weil der Wanderer bis ins Extreme geht, und wir doch irgendwie im Einzelnen andocken können, wir die Worte, die Musik, die Gedanken und Emotionen annehmen können und uns verstanden fühlen. Er ist ein Wanderer, der irgendwie sehr menschlich und sehr mutig, sehr sensibel, sehr intro­vertiert ist, sehr selten ausbricht. Ich glaube, er ist schon immer wieder ein Anklag­ender, aber einer, der sich selbst mehr anklagt als andere. Ich sehe immer die Gefahr, dass man in der „Winterreise“ zu viel nach außen anklagt, doch der Wanderer sieht natürlich auch seinen eigenen Anteil an der Misere.

Vielleicht können Sie uns noch etwas zu den Dreh­arbeiten zum Film erzählen, es ist ja nicht für jeden Sänger üblich, dass er die „Winterreise“ in 2000 m Höhe singt.

Es waren sogar 2300 m. Der Film spielt in den Schweizer Bergen, auf dem Julier­pass in Grau­bünden. Dort gibt es ein kleines Festival, das Origen-Festival. Es wird organisiert von einem unglaublich agilen Theater­macher, Giovanni Netzer, der einen Turm aus Holz mitten in einem Natur­schutz­gebiet gebaut hat, der dann fünf Jahre dort steht und nächstes Jahr wieder abgerissen wird. Es ist ein sehr interes­santer Ort, weil er inmitten der Natur mit nichts rund herum steht. Und als ich diesen Turm zum ersten Mal auf einem Foto sah, konnte ich nicht glauben, dass solch ein Gebäude wirklich existiert. Ich sah den Theater­turm dann ein paar Monate später live, und dachte sofort, das ist ein Raum für die „Winterreise“. Er ist zum einen ein Ort des Schutzes in dieser ganz kahlen Natur. Er kann aber auch als Ort, dem man entfliehen muss, gesehen werden. Er ist zugleich ein Ort zum Verschanzen, ein Ort der Einsamkeit, aber durch diese großen Fenster hat er auch etwas nach außen Gewandtes, etwas Offenes. Das umzu­deuten fand ich spannend. Die „Winterreise“ wird in diesem Film von Interviews mit jungen Musikern begleitet, die die „Winterreise“ einstudieren, was für sie als junge Sängerinnen, Sänger und Pianisten im 21. Jahrhundert wichtig ist, und die lernen, wie man sich emo­tional mit der Musik verbindet. Dann gibt es auch ein Gespräch mit Brigitte Fassbaender, die eine der ersten Frauen war, die den ganzen Zyklus aufgenommen hat. Die „Winterreise“ spielt teilweise im Turm, teil­weise auch draußen. Wir hatten vier Tage Innen­aufnahmen und dann fünf Tage draußen im Freien so bei 70, 80 cm Schnee, bei Minus 16 Grad. Wir begannen früh um sechs Uhr, und das war eigentlich das Schwierige: ich hatte einen Knopf im Ohr, und sang live auf dieses Playback des Klavierparts, den wir zwei, drei Tage zuvor aufgenommen hatten. Also bei jedem Bild, das man sieht, singe ich immer live. Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, alles passend zusammen­zuschneiden, d. h. meine außen aufge­nommene Sing­stimme musste so aufs Klavier drauf gelegt werden, dass alles stimmt. Das war ein sehr langer und kom­plizierter Prozess, den es meiner Meinung nach zuvor noch nicht gab.

Wir hatten einen phan­tastischen Kamera­mann, der sehr akribisch arbeitete. Für jede neue Kamera­einstellung brauchte er ein bis zwei Stunden. Und man stand da in der Kälte und plötzlich hieß es: „Jetzt sing!“ Und dann hatte man nur ein, zwei Chancen, alles richtig zu machen. Dieses Procedere ist nicht wie bei einer Studioaufnahme, wo man Phrasen so oft wieder­holen kann, bis man damit glücklich ist. Dazu war es schwierig, Stimme und Finger warm zu halten, fokussiert zu bleiben und den ganzen Tag über in Spannung zu bleiben. Und das waren Heraus­forderungen, gerade im Schnee­sturm, wo wir oft an unsere Grenzen kamen, da waren zwei, drei Momente, wo ich sagte: „Jetzt ist Schluss. Wir machen’s nicht mehr.“ Aber wir haben es dann doch geschafft!

Benjamin Appl und die Jenaer Philharmonie im Volkshaus, Foto: JenaKultur, Christoph Worsch

Sie identi­fizieren sich sehr stark mit dem Wanderer der „Winterreise“ und ziehen den Hörer gleich von Beginn des ersten Liedes ins Geschehen hinein. Gleich­zeitig bieten Sie viele Möglich­keiten, wo die Hörer anknüpfen oder sich identi­fizieren können. War das bewusst so konzipiert oder entsteht das ganz organisch beim Singen?

Ich denke: Beides. Was ich mir immer gerade als Bariton denke: Was ist das Schönste, was man machen kann? Es gibt natürlich tolle Opern­rollen. Aber eigentlich ist diese Stimm­lage prädestiniert für den Lied­gesang. Im Lied sind Sprache, Lyrik und Musik auf ganz besondere Weise verbunden. Und diese Einheit, denke ich, ist es, die für den Lied­gesang einen natürlichen Zugang erfordert. Da ist natürlich der Bariton, der der Sprech­stimme am nächsten ist, für den Lied­gesang besonders prädestiniert. Ich versuche, Menschen, die sich mit dem Gesang nicht so sehr beschäftigen, einen Eindruck zu vermitteln, dass hier jemand ist, der mit ihnen spricht. Ich versuche, und ich hoffe, dass meine Gesangs­interpretation natürlich ist, dass sie zeit­gemäß, aber auch zeit­los ist. Ich hoffe, dass ich zu einer Natür­lichkeit finde, einer Beschäftigung mit den Texten und Emotionen, die dahinter ruhen und manchmal mehr, manchmal weniger hervor scheinen, manchmal zurück­haltender oder reserviert sind, aber manchmal auch sehr engagiert – das Alles möchte ich ausdrücken. Das ist etwas, worüber ich mir schon Gedanken mache, auch im eigenen Leben, und so versuche ich, das, womit ich mich beschäftige und was ich reflektiere, auch in die Inter­pretation einfließen zu lassen und hoffentlich vielschichtig zu sein.

Christa Ludwig hat einmal gesagt, nicht die Geige oder die Harfe seien es, die Menschen und vielleicht die Götter erreichen und erweichen können, sondern allein die menschliche Stimme. Ich wünsche Ihnen, dass Ihnen das noch oft gelingen wird und wünsche Ihnen für die „Winterreise“ in Jena und alle anderen Konzerte in nächster Zeit alles, alles Gute. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.

Das Gespräch mit Benjamin Appl führte Dr. Dietmar Ebert.

Zurück