Mahler-Scartazzini-Zyklus V bildete den Höhepunkt der Spielzeit für die Jenaer Philharmonie
Beifallsstürme für Scartazzinis »Einklang« (Uraufführung) und Mahlers 5. Sinfonie
Der Abend begann mit Andrea Lorenzo Scartazzinis „Incantesimo“, das vor vier Wochen in Jena uraufgeführt wurde. Der Komponist hat es Mahlers „Vierter“ vorangestellt. Das Herzstück bildet die Vertonung von Eichendorffs „Abendständchen“. Bei der Uraufführung sang es Lina Johnson. Am Donnerstagabend erklang die Orchesterversion, und der Gesangspart wurde von der Solo-Oboe (Gunter Sieberth) übernommen. Die Schlusstöne von „Incantesimo“ sind im ersten Akkord von „Einklang“ enthalten. „Einklang“ bildet die Mitte von Scartazzinis Zyklus. Es ist ein ruhig anmutendes Stück, dessen Grundklang ein C-Dur-Akkord ist, aus dem sich langsam bewegende Streicherflächen über mehrere Oktaven entwickeln. Dieser Grundklang reicht bis zum 15. Oberton, und die Obertöne werden in einer Untertonreihe gespiegelt. Indem sich 1. und 2. Violinen gegenüber sitzen, kann der Klang „wandern“ und seine Raumwirkung entfalten.
Nach einem leicht aufsteigenden Motiv in den Blechbläsern erklingt eine trostspendende Kantilene in den Holzbläsern, die in den Streichern fortgesponnen wird. Von „Einklang“ geht eine Ruhe aus, wie sie im „Auge des Taifuns“ herrschen mag. Scartazzini führt in „Einklang“ die Musik direkt an Mahlers 5. Sinfonie, fast glaubt man, sie verklingen zu hören, während schon die Trompetenfanfare (Steffen Naumann) den „Trauermarsch“ der Mahler-Sinfonie eröffnet. Zugleich nutzt Andrea Lorenzo Scartazzini das Prinzip der „Verräumlichung der Musik“ (György Ligeti), das Mahler im 1. Satz seiner fünften Sinfonie praktizierte. Die Musik Scartazzinis und Mahlers befindet sich im „Einklang“, und gleichzeitig entsteht der Eindruck, sacht eine Schwelle zu überschreiten und in die Musik Gustav Mahlers einzutauchen.
Unter der hochkonzentrierten, motivierenden Leitung von Simon Gaudenz gelang der Jenaer Philharmonie eine maßstabsetzende Interpretation von Mahlers 5. Sinfonie in cis-Moll. Im Kopfsatz, einem Trauermarsch mit der einleitenden Trompetenfanfare, dem klagenden Thema der Streicher, einer „Prozession“ der Holzbläser und einem heftigen Aufschrei des gesamten Orchesters, der Wiederholung der Trompetenfanfare und dem Verklingen im Dunkel, sorgten Simon Gaudenz und das Orchester für eine enorme Dramatik. Ebenso expressiv gestalteten sie den 2. Satz. „Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz“, hatte Mahler gefordert. Sehr bewegend war, wie plötzliche Umschwünge ins Optimistische hinweggefegt wurden und der sich entfaltende Choral fahl in sich zusammenfiel. Nach den beiden Sätzen der „ersten Abteilung“ folgte ein kräftig-derbes Scherzo im Stil eines Ländlers, das durch ein großes Horn-Solo (Robinson Wappler) eine Welt auf dem Lande entstehen lässt. Wie die Harfenistin (Judith Renard) und die Streicher der Jenaer Philharmonie das nun folgende Adagietto spielten, verströmte es eine „Fülle des Wohllauts“ (Thomas Mann) und öffnete zugleich den Blick in eine erträumte Sehnsuchtswelt. Im Finalsatz mit seinen überschwänglichen Aktivitäten vermischen sich turbulent Hohes und Niederes. Im lebensfrohen, alle Schatten vertreibenden Schlusschoral gelang es Simon Gaudenz und der Jenaer Philharmonie, noch einmal alle orchestrale Pracht zu entfalten. Das Publikum feierte mit langem, stürmischem Applaus und Bravorufen Andrea Lorenzo Scartazzini für die Uraufführung von „Einklang“ und Simon Gaudenz und die Jenaer Philharmonie für ihre exzellente Aufführung der beiden Scartazzini-Stücke und der 5. Sinfonie von Gustav Mahler.
Mit Spannung folgt das Jenaer Publikum der Uraufführung jeder neuen Komposition Scartazzinis. Mit „Einklang“ ist genau die Mitte seines Zyklus erreicht, und in der neuen Spielzeit werden zwei neue Stücke uraufgeführt, die der 6. und 7. Sinfonie Gustav Mahlers vorangestellt sein werden. Die Jenaer Philharmonie und Simon Gaudenz haben mit den Aufführungen der 4. und 5. Sinfonie von Gustav Mahler zu einem eigenen, unverwechselbaren Mahler-Klang gefunden, mit dem sie am 9. Juli zur Eröffnung der Toblacher Gustav Mahler Musikwochen das dortige Publikum erfreuen werden.
Dr. Dietmar Ebert