Wiederbegegnung mit »Anima« und gelungene Uraufführung von »Enigma«

Zu Beginn des Kon­zerts sang Eve­lyn Krahe mit ihrer dun­kel tim­brier­ten Alt­stimme Andrea Lorenzo Scar­taz­zins „Anima“ klang­schön und aus­drucks­stark. „Anima“ wurde im ver­gan­ge­nen Jahr urauf­ge­führt und bildete den Pro­log zu Gustav Mah­lers groß ange­leg­ter „Sin­fo­nie der Tau­send“. Die Kom­po­si­tion ist eine Ver­to­nung von Goe­thes „Gesang der Geis­ter über den Was­sern“. Der Kreis­lauf des Was­sers wird mit der mensch­lichen Seele ver­gli­chen und inten­diert eine Nähe zur Läu­te­rung von Fausts Seele, wie sie in Goe­thes Schluss­szene von „Faust II“ lite­ra­risch und im zwei­ten Teil von Gus­tav Mah­lers 8. Sin­fo­nie musi­ka­lisch gestal­tet ist.

Auf „Anima“ folgte „Enigma.“ In Scar­taz­zi­nis neue­ster Kom­po­si­tion domi­nier­ten ver­hal­tene Strei­cher­klänge. Sie stie­gen höher und höher und entschwan­den in unbe­kannte Fer­nen. Die Blech­bläser into­nier­ten ein melo­di­sches Rau­schen, aus dem alle Klang­far­ben ent­wi­chen waren. Nach einem Moment der Stille erklang eine drei­tei­lige, von Vibra­phon und Glo­cken­spiel vor­ge­tra­gene Ton­folge. Es war die­selbe Melo­die, die der Chor im zwei­ten Stück des Zyk­lus, „Epi­taph“, auf Ril­kes Verse anstimmt:

„Denn wir sind nur die Schale und das Blatt.
Der große Tod, den jeder in sich hat,
das ist die Frucht, um die sich alles dreht.“

Andrea Scar­taz­zini spannt so den Bogen zu den letz­ten, erster­be­nden Tönen des „Ada­gios“ aus Mah­lers 9. Sin­fonie. Doch zugleich stellt er den Bezug zu „Epi­taph“ und Mah­lers frü­he­rer Beschäf­ti­gung mit Tod und Aufer­ste­hung her. Inte­res­sant war es auch zu hören, wie „Eni­gma“ leise und ver­hal­ten an das vor­her­ge­hende Stück des Zyk­lus „Anima“ anknüpft. Wie Scar­taz­zi­nis bis­he­rige Kom­po­si­tio­nen genau mit­ein­an­der in Ver­bin­dung ste­hen, das wird man erst nach der Auf­füh­rung des gesam­ten Zyk­lus in Ver­bin­dung mit dem Kopf­satz zu Gus­tav Mah­lers unvoll­en­det hin­ter­las­se­ner 10. Sin­fo­nie sagen kön­nen, aber dass sie unter­ein­an­der kor­res­pon­die­ren, wie es auch bei den Sin­fo­nien Gus­tav Mah­lers der Fall ist, das lässt sich schon jetzt sagen.

Unter der prä­zi­sen Stab­füh­rung von Simon Gau­denz gelang der Jenaer Phil­har­mo­nie eine groß­ar­tige Urauf­füh­rung von „Enigma“, der bis­her lei­ses­ten Kom­po­si­tion Scar­taz­zi­nis. Die Musi­ke­rin­nen und Musi­ker an den Vio­li­nen, Brat­schen und Celli leis­te­ten ebenso Vor­züg­li­ches wie die Bläser und Schlag­wer­ker.

Die Jenaer Philharmonie fand unter der Stabführung von Simon Gaudenz eine unverwechselbare, sehr berührende Klangsprache für Mahlers »Neunte«

Für Gus­tav Mah­lers letzte voll­en­dete Sin­fo­nie fan­den die Jenaer Phil­har­mo­nie und ihr Chef­di­ri­gent eine eigene, unver­wech­sel­bare und sehr berüh­rende Klang­spra­che. Bereits im Kopf­satz „Andante comodo“ mit sei­nem tas­ten­den Beginn, sei­nem berühm­ten Seuf­zer-Motiv, sei­nen lan­gen Melo­dien, dra­ma­ti­schen Auf­brü­chen und weh­mü­ti­gen, von Abschieds­schmerz durch­zo­ge­nen dunk­len Klän­gen, zeigte sich die Jenaer Phil­har­mo­nie in allen Orches­ter­grup­pen bes­tens dis­po­niert, und Simon Gau­denz sorgte für einen pracht­vol­len Mah­ler-Klang, in dem alles Gegen­sätz­li­che, Aus­ein­an­der­stre­bende, vom Ein­sturz Bedrohte fra­gil ver­eint war. Beson­ders im ers­ten Satz, der zum Schwie­rig­sten, Rät­sel­haf­tes­ten und Bes­ten gehört, was Gus­tav Mah­ler je kom­po­niert hat, zeigte sich, wie sehr die jah­re­lange Beschäf­ti­gung mit den Wer­ken Gus­tav Mah­lers die Klang­sprache der Jenaer Phil­har­monie verän­dert hat, wie sich der warme, dif­fe­ren­zierte Klang der Strei­cher mit einer Fülle sub­ti­ler Holz­blä­ser-Soli, dem her­ben Glanz der Blech­blä­ser und den Soli der Schlag­wer­ker zu einem musi­ka­li­schen Kos­mos ver­ban­den, der Mah­lers Par­ti­tur auf außer­ge­wöhn­liche Weise gerecht wurde.

Derb und dras­tisch erklang der zweite Satz mit sei­nen Länd­lern und Dorf­tän­zen, die sich in rascher Folge abwech­sel­ten und wie ein musi­ka­li­sches Kalei­dos­kop wirk­ten. Zunächst wähnte man sich in die musi­kan­ti­sche Atmo­sphäre eines Dorf­tanz­plat­zes ver­setzt, aber die Tänze folg­ten immer dich­ter und schnel­ler auf­ein­an­der. Die Musik wir­kte, als ob sich die Tänze in einem Stru­del mit­ein­an­der ver­quirl­ten, ehe der zweite Satz in einem musi­ka­li­schen Stau­nen lang­sam ver­klang.

Groß­ar­tig meis­terte die Jenaer Phil­har­mo­nie unter Simon Gau­denz die „Rondo-Bur­leske“. Sie ist eine Art Geschwind­marsch und wirkte wie ein mani­sches Per­pe­tuum mobile mit raben­schwar­zem Humor, das immer schnel­ler wer­dend, plötz­lich abrupt endete. Als Hörer fühlte man sich wie in einem Ket­ten­ka­rus­sell, das sich schnel­ler und schnel­ler dreht, einen nach außen drückt und das urplötz­lich zum Still­stand kommt.

Wie die Jenaer Phil­har­mo­nie unter ihrem Chef­di­ri­gen­ten das Ada­gio mit sei­ner Abschieds­stim­mung spielte, wie man bis­wei­len glaubte, die Musik schaue ins Jen­seits oder Jen­sei­ti­ges sei in Musik gebannt (Schön­berg), wie der letzte Satz in den Gei­gen, Brat­schen und Celli im drei­fa­chen Pia­nis­simo wie von selbst ver­klang, das war zutiefst ergrei­fend und gehört zum Bes­ten, was die Jenaer Phil­har­mo­nie inner­halb des Mah­ler-Scar­taz­zini-Zyk­lus geleis­tet hat. Das Pub­li­kum dankte Andrea Scar­taz­zini, Simon Gau­denz, Eve­lyn Krahe und der Jenaer Phil­har­mo­nie mit Bravo-Rufen und lan­gem, enthu­sias­ti­schem Bei­fall.

Im Juni wird mit Teil X der Mah­ler-Scar­taz­zini-Zyk­lus voll­en­det sein, doch bereits jetzt gilt er im deutsch­spra­chi­gen Musik­raum als sin­gu­läres musi­ka­li­sches Ereig­nis und genießt live und auf CD immer mehr Auf­merk­sam­keit.

Dr. Dietmar Ebert

Fotos: JenaKultur, Christoph Worsch


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