Dietmar Ebert über die Uraufführung von Andrea Scartazzinis „Epitaph“ in Verbindung mit Gustav Mahlers „Auferstehungssinfonie“

Ein einmaliges Geschenk an Jena

Vor Gustav Mahlers 2. Sinfonie in c-Moll, der Auferstehungssinfonie, erklangen Andrea Scartazzinis Kompositionen „Torso“ und als Uraufführung „Epitaph“. In „Torso“ wird die Situation des „Erwachens“ musikalisch durch zwei Ferntrompeten initiiert und bis zur Entfaltung eines vollen Orchesterklangs geführt. Scartazzini bezieht sich auf Rainer Maria Rilkes „Archaischer Torso Apollos“. Durch Anschauung der Statue beginnt sie zu leben und schaut zurück. In „Torso“ beginnt die Musik zu leben, wird zu einem musikalischen Organismus, der vom gesamten Orchester durchpulst wird. Nachdem Andrea Scartazzini die musikalische Linie zu voller Höhe geführt hat, erfolgt nun in „Epitaph“ eine Zurücknahme, ein Abstieg.  Abschiedsstimmung und das Gefühl, die Welt verlassen zu müssen, werden in Form eines Lamentos ins musikalische Bild gesetzt. In einem Cello-Solo (Henriette Lätsch) wird die bange Frage nach der Todesart und dem, was nach dem Tode wohl kommt, nach der „höchsten Not“ des Menschen thematisiert. Unruhe, Unsicherheit, sehnendes Verlangen nach Dauerhaftigkeit und Ungewissheit, sind in dieses ergreifende Solo eingeschrieben. Nun rezitiert der Chor in einem rätselhaften Klangraum drei Verse aus Rilkes „Stundenbuch“ gleichsam als Inschrift auf dem „Epitaph“:

„Denn wir sind nur die Schale und das Blatt.
Der große Tod, den jeder in sich hat,
das ist die Frucht, um die sich alles dreht.“

Damit hat Andrea Scartazzini genau den Ton getroffen, mit dem er sowohl an seine Komposition „Torso“ anknüpfen und zum Kopfsatz der 2. Sinfonie von Gustav Mahler überleiten kann. Unter der Stabführung von Simon Gaudenz fanden gleich zu Beginn des 1. Satzes alle Instrumenten-Gruppen des Jenaer Philharmonischen Orchesters zu einem eigenen Mahler-Klang, ließen die Verschmelzung von „Requiem“-Sequenzen und lyrischen Elementen eines musikalischen Aufstiegs so erklingen, dass Erinnerungen eines Sterbenden und die Überschreitung irdischer Grenzen hörbar wurden. Wie bereits in Scartazzinis „Torso“ kamen „Ferntrompeten“ zum Einsatz. Der warme, volle Streicherklang berührte ebenso wie die vielen Holzbläser-Soli, der strahlende Klang der Blechblasinstrumente und der präzise Einsatz des gesamten Schlagwerks. Wie ferne Lebensbilder, wie Erinnerungen an weit zurück liegende Erlebnisse wirkten die drei folgenden Sätze. Die Ländler-Szenen des 2. Satzes mit den Pizzicati der Streicher erinnerten an alt-österreichische Tanz-Szenen. Simon Gaudenz und das Jenaer Orchester ließen Anklänge an Volkstänze auf dem Lande und den Melodienreichtum Franz Schuberts hören. Der dritte Satz ist von Zitaten aus einem der berühmtesten „Wunderhorn-Lieder“ „Des Antonius Fischpredigt zu Padua“ durchdrungen. Immer wieder ließen Klarinetten-Soli an volkstümliche Melodien aus dem osteuropäischen Kulturraum denken. Dem fünften Satz „Urlicht“ liegt ebenfalls ein Gedicht aus der Sammlung des „Knaben Wunderhorn“ von Clemens Brentano und Achim von Arnim zu Grunde. Evelyn Krahe sang es mit ihrer schönen, vollen Alt-Stimme im Ton naiven Volksglaubens. Unmittelbar auf diesen „musikalischen Ruhepunkt“ folgen die wild auffahrenden Attacken des Finalsatzes. Simon Gaudenz und die Jenaer Philharmoniker ließen all ihre Energien in diese orchestralen Ausbrüche fließen. Höchsten Respekt verdient es, wie der Chefdirigent  und das Jenaer Orchester die enormen Kontraste zwischen den ungestümen, peitschenden Eingangsakkorden und dem Aufstieg in lichte Höhen („Himmelsleiter“) zu einer großartigen Klanggestalt werden ließen. Der Philharmonische Chor, der Madrigalkreis und die Männerstimmen des Knabenchores sangen, bestens einstudiert von Berit Walther, alle Piano- und Forte-Passagen im Geist und Idiom Mahlers. Jana Baumeister (Sopran) und Evelyn Krahe (Alt) leisteten in ihren Soli, im Dialog mit Chor und Orchester Vorzügliches. Viele Besucherinnen und Besucher waren von ihrem Solo zu Tränen gerührt:

„O Schmerz! Du Alldurchdringer!
O Tod! Du Allbezwinger!
Nun bist du bezwungen!
Mit Flügeln, die ich errungen,
In heißem Liebesstreben
Werd ich entschweben
Zum Licht, zu dem kein Aug‘ gedrungen!“
Höher und höher erhoben sich die Klänge, bis im berühmten
„ Aufersteh’n, ja aufersteh’n  wirst du,
Mein Herz, in einem Nu!
Was du geschlagen,
Zu Gott wird es dich tragen!“

Simon Gaudenz führte die beiden Solistinnen, Chor und Orchester zur grandiosen, finalen Steigerung.
Das Jenaer Publikum bedankte sich bei allen Künstlern mit stehende Ovationen und Jubel wie nach einem Popkonzert!  
Dieses denkwürdige Konzert wird dem Jenaer Publikum in zweifacher Hinsicht in Erinnerung bleiben, einmal durch die Uraufführung vom Andrea Scartazzinis „Epitaph“, mit dem er über mehr als ein Jahrhundert hinweg den Bogen zu Mahlers „Auferstehungssinfonie“ geschlagen hat, und durch eine Aufführung der 2. Sinfonie von Gustav Mahler, in der das Jenaer Philharmonische Orchester eine eigene Klangsprache für eine Mahler-Sinfonie gefunden hat.
Ein herzliches Dankeschön an Jana Baumeister, Evelyn Krahe, den Chor und Berit Walther, vor allem jedoch an Andrea Scartazzini, Simon Gaudenz und das Jenaer Orchester.

Dr. Dietmar Ebert

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