Geschenk für alle Musikfreunde
Erfolgreiche Uraufführung von Scartazzinis »Incantesimo« und bewegende Interpretation von Mahlers »Vierter«
Zu Beginn des Abends sang die norwegisch-amerikanische Sängerin Lina Johnson Drei Gesänge für hohe Frauenstimme und Orchester von Karl Weigl. Er hatte 1916 Ricarda Huchs Gedichte „Heimkehr“, „Hymne“ und „Geständnis“ vertont. Karl Weigl gehört zu den zu Unrecht vergessenen Wiener Komponisten, die 1938 Österreich verlassen mussten. Ricarda Huchs Gedichte sind durch einen „sehr hohen“, pathetischen Ton geprägt. Karl Weigl doppelt ihn durch die Höhe der Singstimme. Er hat die Lieder sehr interessant und farbig instrumentiert, vielleicht sogar überinstrumentiert, sodass Lina Johnson es schwer hatte, stimmlich „duchzudringen“, auch wenn Simon Gaudenz versuchte, die Lautstärke des Orchesters zurückzunehmen.
Danach erklangen „Torso“ und „Epitaph“, die Andrea Lorenzo Scartazzini der 1. und 2. Sinfonie Mahlers vorangestellt hatte. Wieder beeindruckten die Ferntrompeten (Steffen Naumann, Alexander Suchlich) zu Beginn von „Torso“, ehe das orchestrale Geschehen zu erwachen begann und das von Henriette Lätsch technisch perfekt und ausdrucksstark gespielte Cello-Solo am Ende von „Epitaph“. Nach der Pause folgten „Spiriti“ mit seinen geisterhaft-huschenden Figuren in verschiedenen Instrumentengruppen und „Incantesimo“, das den Übergang zur 4. Sinfonie Gustav Mahlers bildete. Incantesimo ist das italienische Wort für Zauber oder Verzauberung. Das Herzstück von „Incantesimo“ ist die Vertonung von Eichendorffs „Abendständchen“. Andrea Lorenzo Scartazzini gelingt es, die vom Dichter beschworene „hochromantische traumhaft verklärte Abendstimmung“ in eine Musik zu verwandeln, von der ein unwiderstehlicher Zauber ausgeht. Mit jeder Liedstrophe entfaltete sich der über zartem Orchesterklang schwebende Sopran Lina Johnsons schöner und reiner. Es schien, als ob ein Blick in eine „weit entrückte Sehnsuchtswelt“ gewährt würde.
Kaum war der letzte Ton von „Incantesimo“ verklungen, begann mit Schellengeläut der Kopfsatz der 4. Sinfonie von Gustav Mahler. Er scheint in eine heiter-idyllische Atmosphäre getaucht zu sein; die jedoch trügerisch ist und immer wieder gestört wird. Bereits im 1. Satz war zu hören, wie sich unter der Stabführung von Simon Gaudenz ein Mahler-Klang der Jenaer Philharmonie entfaltete, wie er noch vor wenigen Jahren nicht vorstellbar war. Hochdifferenziert und klangfarbenreich, lebte er von der Natürlichkeit instrumentaler Zu- und Wechselspiele. Die Doppeldeutigkeit setzt sich im 2. Satz fort, in dem es scheint, als ob der „Tod mit seiner Fiedel“ aufspiele. Die 1. Violine ist um einen Ganzton höher gestimmt als die anderen Instrumente. Wie der durch das virtuose Spiel Rosa Donata Miltons erzeugte, leicht fahl wirkende Geigenklang mit dem Orchester kontrastierte und sich wenig später ein von den Klarinetten intonierter Bauerntanz ins Orchester mischt, war ebenso beeindruckend wie die ruhevolle Entfaltung des Hauptthemas im dritten Satz, das möglicherweise von Kirchengrabmälern inspiriert ist, auf denen Verstorbene im ewigen Schlaf dargestellt sind. Immer mehr gerät die Musik in Bewegung und erfährt eine spannungsgeladene Steigerung: Mit einem grandiosen Tutti-Akkord scheint es, als ob der Vorhang vor einem grellbunten „Bauernhimmel“ aufgezogen würde. Und nun beschwor Lina Johnson im Finalsatz die „himmlischen Freuden“: den Tanz, die Speisen, den Wein und die Musik, ehe die Sinfonie ersterbend („morendo“) mit einem tiefen Kontrabasston verklang.
Simon Gaudenz und die Jenaer Philharmonie beeindruckten mit einem hochdifferenzierten, farbenreichen Mahler-Klang und einer ausdrucksstarken Aufführung der Kompositionen Andrea Lorenzo Scartazzinis. Das Konzert war ein großes Geschenk für alle Musikfreunde! Allen, die es nicht gehört haben, sei die Ausstrahlung auf Deutschlandfunk Kultur am 17. Mai um 20:03 Uhr wärmstens empfohlen. Musikfreunde sollten keinesfalls die Uraufführung von Scartazzinis „Einklang“ und die Aufführung der 5. Sinfonie von Gustav Mahler am 19. Mai versäumen. Der 4. Satz dieser Sinfonie ist das berühmte Adagietto, das Luchino Visconti in seinem Film „Tod in Venedig“ verwendet hat. Mit „Einklang“ und Mahlers 5. Sinfonie wird die Jenaer Philharmonie auch am 9. Juli die Gustav Mahler Musikwochen in Toblach eröffnen. Das zeigt das internationale Ansehen, das die Jenaer Philharmonie bereits jetzt mit dem Mahler-Scartazzini-Zyklus erlangt hat!
Dr. Dietmar Ebert