Im Zeichen von Barock und Klassik
Julia Sophie Wagner rettete das Konzert und brillierte mit Haydn-Arien – Der heimliche Star des Abends war die Jenaer Philharmonie
Das Programm des Donnerstagskonzerts № 6 mit Musik des Spätbarock und der Frühklassik bildete eine Art „Kontrapunkt“ zum Donnerstagskonzert № 5, in dem Musik der Spätromantik und der französischen Moderne erklang. In beiden Fällen wurde die Solo-Stimme in den Mittelteilen von orchestraler Musik am Anfang und zum Ausklang umrahmt. War im Konzert am 17. März mit Benjamin Appl einer der renommiertesten Liedsänger der Gegenwart zu Gast, sollte in diesem Konzert mit Núria Rial, die bereits unter Iván Fischer, Thomas Hengelbrock und René Jacobs gesungen hatte, eine noch junge und doch bereits erfahrene Sopranistin auftreten, die mit dem barocken und klassischen Repertoire bestens vertraut ist. Sie musste leider krankheitsbedingt absagen. Julia Sophie Wagner sprang kurzfristig ein und rettete sowohl das Konzert im Jenaer Volkshaus, als auch das in der Arnstädter Bach-Kirche.
„Sturm und Drang“-Sinfonie des „Londoner“ Bach
Das Konzert begann mit Johann Christian Bachs Sinfonia g-Moll für 2 Oboen, 2 (Natur-)Hörner, 2 Violinen, Viola und Basso continuo op. 6 Nr. 6. Unter den ca. 40 Sinfonien des Komponisten ist sie die einzige, die in einer Molltonart geschrieben ist. Johann Christian Bach ist der jüngste Sohn Johann Sebastian Bachs und trägt nach seinen Wirkungsorten auch den Beinamen „Mailänder“ oder „Londoner“ Bach. Ausgehend von seinen Erfahrungen mit italienischen Opernouvertüren (schnell-langsam-schnell) und geistlicher Vokalmusik, entwickelte Johann Christian Bach die zunächst dreisätzige sinfonische Form (Allegro-Andante-Allegro) und fand dabei zu einem durchaus eigenen Stil der frühen Sinfonik. Die g-Moll-Sinfonie Johann Christian Bachs wird durch die rhythmisch akzentuierten, leidenschaftlich erregten Ecksätze und den lyrischen Mittelsatz, der eigentlich ein Streichquartett mit Basso continuo ist, als Sinfonie im Geiste des „Sturm und Drang“ bezeichnet. Simon Gaudenz ließ sie (abgesehen von der Basso continuo-Gruppe) im Stehen musizieren und tatsächlich strömte der Klang freier in den Raum. Es war ein musikalischer Genuss, mit welcher Präzision, Spielfreude und Leidenschaft die Instrumentalist*innen der Jenaer Philharmonie die g-Moll-Sinfonie des Londoner Bach spielten. Das Orchester, das unter seinem Chefdirigenten noch vor wenigen Wochen spätromantische Klangwelten erzeugt hatte, fand nun zu einem sehr transparenten Klangbild, das stilistisch zwischen Spätbarock und Frühklassik changierte.
Weltliche Kantate „Weichet nur, betrübte Schatten“
Unmittelbar darauf folgte Johann Sebastian Bachs weltliche Kantate „Weichet nur, betrübte Schatten“. Diese Soprankantate hat sich nur erhalten, weil der Bachverehrer Johann Peter Kellner in Gräfenroda offenbar die Noten davon besaß und 1730 von seinem damals dreizehnjährigen Schüler Johannes Ringk eine Abschrift der Partitur anfertigen ließ. Vieles spricht dafür, dass die Kantate in Bachs Köthener Zeit zunächst als Frühlingskantate entstanden und später als Hochzeitskantate umgearbeitet worden ist, indem gegen Ende des Stücks Segenswünsche für ein Brautpaar eingeflochten wurden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat Bachs zweite Frau Anna Magdalena diese Kantate als Erste gesungen. Die hohe Tessitura bis zum zweigestrichenen „a“ und alle Verzierungen konnte sie offenbar mühelos bewältigen.
In der Lage dazu ist auch Julia Sophie Wagner, deren Sopranstimme von den Soloinstrumenten, vor allem der Solo-Oboe (ausgezeichnet: Gunter Sieberth) reizvoll umspielt wurde. Gelang es ihr in den Rezitativen, weitgehend textverständlich zu artikulieren, so waren die Texte der meisten Arien nicht zu verstehen. Wer mochte, konnte die Texte im Programmheft nachlesen und sich auf die Musik konzentrieren.
Julia Sophie Wagner brillierte mit selten zu hörenden Opernarien von Haydn
Die italienischen Opernarien Joseph Haydns waren wohl der Höhepunkt des Abends. Ganz offensichtlich lagen sie Julia Sophie Wagner ganz besonders, denn sie brillierte mit perlenden Koloraturen. Joseph Haydn hatte sie als Einlagen für Opern von Pietro Alessandro Guglielmi, Domenico Cimarosa, vermutlich Florian Leopold Gassmann und Giovanni Paisiello geschrieben. Diese selten zu hörenden Sopranarien von Joseph Haydn entstanden alle in seiner Zeit am Hofe des Fürsten Esterházy. Die Musik Joseph Haydns liegt Simon Gaudenz besonders am Herzen, und wieder ließ er die Bläser und Streicher, mit Ausnahme der Cellisten und Kontrabassisten im Stehen musizieren. So gelang Julia Sophie Wagner und dem Jenaer Kammerensemble unter der genauen und sehr inspirierenden Leitung von Simon Gaudenz ein wirklich authentischer Haydn-Klang. So oder so ähnlich könnte ein Kammerorchester zu Haydns Lebzeiten geklungen haben. Julia Sophie Wagner, Simon Gaudenz und die Instrumentalist*innen der Jenaer Philharmonie sorgten für einen Haydn-Klang, den ich als sehr zeitgemäß empfinde. Natürlich waren es die Koloraturketten, mit denen Julia Sophie Wagner das Publikum besonders beeindruckte; der besondere Reiz lag jedoch darin, wie ihr höhensicherer Sopran vom Spiel der Solo-Oboe (Gunter Sieberth), der Solo-Violine (Marius Sima) und des Solo-Cellos (Henriette Lätsch) umspielt und vom gesamten Kammerensemble der Jenaer Philharmonie getragen wurde. Das Publikum applaudierte begeistert und entließ die in Leipzig lebende und wirkende Sopranistin erst nach einer Zugabe.
Mitreißendes Finale mit Carl Philipp Emanuel Bachs D-Dur-Sinfonie
Die Sinfonia in D-Dur (Wq 183/1) von Carl Philipp Emanuel Bach für 2 Flöten, 2 Oboen, Fagott, 2 Hörner, Streicher und Basso continuo entstand knapp 10 Jahre später als die g-Moll-Sinfonie seines jüngsten Bruders Johann Christian. Sie ist die erste seiner vier großen Orchester-Sinfonien, die dem damaligen Prinzen Friedrich Wilhelm II., dem Neffen Friedrich II., gewidmet ist. Carl Philipp Emanuel Bachs D-Dur-Sinfonie beginnt mit einem energischen Kopfsatz („Allegro di molto“), der geradezu dramatisch eröffnet wird und sich in einem mächtigen Crescendo entfaltet, dem ein ruhevoll-getragenes Rondo folgt. Im Presto wechseln freudig-entschlossene vorwärtsdrängende Passagen mit eher fragenden Streicher-Figuren.
Auch in Carl Philipp Emanuel Bachs D-Dur-Sinfonie saßen nur die Cellist*innen und Kontrabassisten, alle anderen Instrumentalist*innen spielten im Stehen, Simon Gaudenz ließ den Klang frei in den Konzertsaal strömen, befeuerte und trieb das Spiel in den energisch-drangvollen Sätzen voran, und ließ das Largo wie einen Instrumentalgesang erblühen. So entstand ein sehr feines, transparentes Klangbild, in der jede einzelne Instrumentalstimme zu hören war. Gleichzeitig keimte der Wunsch auf, alle vier, dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm II. gewidmeten, Sinfonien, einmal in ihrer Gesamtheit zu hören.
Das Konzert hat sehr eindrucksvoll gezeigt, dass die Sinfonien der Bach-Söhne durch die historisch informierte Aufführungspraxis und engagierte Dirigenten wie Simon Gaudenz ihren Weg ins Konzertrepertoire zurückfinden können. Das Jenaer Publikum war begeistert.
Und der heimliche Star des Abends war das Jenaer Philharmonische Orchester!
Dr. Dietmar Ebert