Ein Höhepunkt des Theaterprojekts »Kein Schlussstrich!«
Aufrüttelnde Uraufführung – Marc Sinans »MANİFEST(O)«
Im Rahmen des bundesweiten Theaterprojektes „Kein Schlussstrich!“ erlebte am vergangenen Donnerstag, dem 28. Oktober 2021, Marc Sinans polytopisches Oratorium „MANİFEST(O)“ seine bewegende Uraufführung im Jenaer Volkshaus. Hier agierten die Vokalsolistinnen Katia Guedes, Johanna Vargas, Johanna Krödel, der Bassist Andreas Fischer, das Ensemble AuditivVokal Dresden und das Orchester der Jenaer Philharmonie. Die Stimmen der beiden Erzählerinnen und des Knabenchors der Jenaer Philharmonie wurden vom Band eingespielt. Simon Gaudenz fiel die komplizierte Aufgabe zu, alle an Marc Sinans siebenteiligem Oratorium live Beteiligten mit Zuspielen aus Kassel, Hamburg, Rostock, München, Heilbronn, Nürnberg und Köln musikalisch zu koordinieren.
Sieben Teile hat Sinans großes Oratorium, und aus sieben Städten kamen die Zuspiele. Die Zahl „Sieben“ besitzt einen hohen Symbolwert, sieben Teile hat das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms und auch Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“ besteht aus sieben Teilen. Marc Sinan nutzt nun für sein Oratorium musikalische und technische Mittel, die auf Zukünftiges vorausweisen. Der Komponist hat durch das Zusammenführen von live im Konzertsaal und gleichzeitig an anderen zugeschalteten Orten gespielter Musik eine musikalische Form gefunden, um den Opfern des NSU, den Getöteten wie den Überlebenden, eine Stimme zu geben. Das gelingt ihm vor allem durch die anrührenden Kinderstimmen der beiden Erzählerinnen Fanny Sel Baute, die die deutschen und Naz Yilmaz, die die türkischen Texte sprachen. Immer wieder wird ihre Erzählung durch Vokalsoli und Chorpassagen unterbrochen, kommentiert und verstärkt.
Nach den ersten beiden Teilen „Die Abwesenheit Gottes“ und „Blinde Liebe“ erfährt Sinans Oratorium im dritten Teil „Die Anwesenheit des Menschen“ eine enorme Steigerung durch die Solistinnen, den Chor und die eingespielte Percussionperformance mit Daniel Eichholz, Christian Kuzio und Rostocker Jugendlichen. Zwischen dem dritten und dem vierten Teil spielte der niederländische, in Berlin lebende Kontrabassist Meinrad Kneer, ein langes, Herz und Verstand gleichermaßen ansprechendes Solo. Der vierte Teil ist mit „Der Altar der Rache“ überschrieben und mit einer Performance kombiniert, die vom Münchner Odeonsplatz zugespielt wurde. Ihm folgt der fünfte Teil „Glühender Hass“. In diesem Teil mischen sich die Stimmen der Erzählerinnen, der Solistinnen und des Bassisten besonders intensiv, wird doch thematisiert, wie den Opfern durch ihren Hass auf die, die ihnen das Leben nahmen, jeder Blick auf Hoffnung und Licht versperrt ist. Dieses Verharren im „inneren Kreis der Hölle“ wird verstärkt durch das aufrüttelnde Spiel des blinden Klarinettisten Oğuz Büyükberber vor dem Komödiantenbrunnen in Heilbronn und dem grandios gespielten Solo des serbischen Bratschisten Saša Mirković, das, den musikalischen Fluss unterbrechend, zu „Gleissendes Licht“ überleitet. In diesem Teil wird durch die Stimmen der Erzählerinnen, der Solistinnen, des Ensembles AuditivVokal Dresden, des Knabenchors und das aus Nürnberg übertragene Spiel des Pianisten Emre Elivar zum Ausdruck gebracht, wie schwer es ist, die Rachegefühle zu bändigen, solange den Opfern keine Gerechtigkeit zu Teil wird. Im Finalsatz „Der Chor der Vergebung“ vereinigen sich alle in Jena versammelten Vokal- und Instrumentalstimmen mit einem Laienchor, der aus der Kölner Keupstraße zugeschaltet war. Der Kinderchor kündigt ganz leise Hoffnung an, der Chor des Flüsterns mahnt, die Namen aller NSU-Mordopfer zu nennen. Alle Namen werden im Chor gesprochen; immer wieder sind Atemgeräusche zu hören. Das Leid der Opfer wird erinnert und im „kollektiven Gedächtnis“ (Maurice Halbwachs) verankert.
Das Jenaer Publikum dankte allen an der Aufführung Beteiligten, Marc Sinan und Simon Gaudenz mit herzlichem Applaus. Die beiden Sprecherinnen, die Solistinnen, das Ensemble AuditivVokal Dresden, der Knabenchor der Jenaer Philharmonie, die beiden Solo-Instrumentalisten, das gesamte Orchester der Jenaer Philharmonie und die Techniker haben eine große Leistung vollbracht und musikalisches Neuland beschritten. Wie Simon Gaudenz das gesamte musikalische Geschehen koordiniert und durch sein Dirigat geprägt hat, verdient höchste Anerkennung! Wenn auch eine musikdramaturgische Straffung dem Oratorium gut anstehen würde, sei allen Musikfreunden die nächste Aufführung am 7. November 2021 im Jenaer Volkshaus wärmstens empfohlen.
Dr. Dietmar Ebert