»Musik – Etappen einer Skandalgeschichte«

Kein Skandal, sondern unterhaltsames Musiktheater auf sehr hohem Niveau

Simon Gaudenz, Foto: Joachim Dette

Am 16. Februar war es nun endlich so weit: Das in Kooperation zwischen dem Theaterhaus Jena und der Jenaer Philharmonie entstandene Stück „Musik – Etappen einer Skandalgeschichte“ hatte endlich seine Premiere.

Ein Stück, in dem drei Instrumentalistinnen, zwei Schauspielerinnen, drei Instrumentalisten, ein Schauspieler und ein Dirigent agieren – das ist in der gegenwärtigen Pandemie­phase bestens geeignet und erfüllt alle Infektions­schutz­bestimmungen. Doch das ist zweitrangig: Das Stück passt perfekt in den Bühnenraum des Jenaer Theaterhauses, und Regisseurin Lizzy Timmers lässt den Blick in die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts schweifen, lässt von den großen Skandalen erzählen, die Debussys und Strawinskis Musik in Paris oder Schönbergs zweites Streich­quartett in Wien auslösten, lässt Richard Strauss, Alma und Gustav Mahler zur österreichischen Erstaufführung der „Salome“ nach Graz reisen, Schostakowitsch im Moskau des Jahres 1936 zu Wort kommen und John Cage über Geräusche philosophieren. So werden Geschichten aus der „Helikopter­perspektive“ erzählt und manchmal landet der Hubschrauber und wir werden Zeuge eines Gesprächs oder eines Monologs, ehe es gleich weiter geht zur nächsten Station der Musik­geschichte. Das verlangt Henrike Commichau, Hanneke van der Paardt und Leon Pfannenmüller eine enorme schauspielerische Wandlungs­fähigkeit ab, stellt aber auch Marius Sima (Violine), Alma-Sophie Starke (Violoncello), Erdmute Geuther (Flöte), Christof Reiff (Klarinette), René Münch (Schlagwerk), Johannes Freyer (Tuba), Camelia Sima (Klavier) und Dirigent Simon Gaudenz vor die schwierige Aufgabe, von einer Minute zur nächsten die musikalische Stilistik zu wechseln. Das gelingt ihnen ganz ausgezeichnet, denn neben den Erzählungen über musikalische Skandale, neue Formen in der Musik und kreischende, pfeifende und sich prügelnde Menschen im Publikum werden auch Ausschnitte aus musikalischen Stücken, die heute als Meisterwerke des 20. Jahrhunderts gelten, gespielt. Hier kann man nur andächtig lauschen, das Bedürfnis nach Applaus verspüren und still zu sich sagen: „Wow!“ Ganz großartig gelungen sind die Arrangements, die David Riniker aus den groß besetzten Partituren von Richard Strauss, Gustav Mahler, Igor Strawinski, Dmitri Schostakowitsch und Arnold Schönberg destilliert hat, die Motive prägen sich in der Kammerbesetzung gut ein, und der Rhythmus bleibt vollständig erhalten.

Hanneke van der Paardt, Foto: Joachim Dette

Vielleicht braucht es etwas Zeit, bis die Vorstellung Fahrt aufnimmt, vielleicht ist man als Zuschauer ein bisschen irritiert, wohin die Reise gehen soll, aber spätestens, wenn Leon Pfannenmüller den Tänzer Vaslav Nijinsky verkörpert und zu Debussys Musik dessen Faun tanzt, wird klar, wie Wort, Musik, Darstellung und Bewegung ein Spannungsfeld erzeugen, das die Zuschauer in seinen Bann zieht. Gleich geht es von Wien weiter nach Graz. Gustav Mahler hatte sich vergeblich bemüht, die „Salome“ von Richard Strauss an der Wiener Hofoper aufzuführen. Gegen seine Vorgesetzten bei Hofe hatte Mahler keine Chance. So reisten Strauss und die Mahlers 1906 zusammen zur österreichischen Erstaufführung, die in Graz stattfand. Ob auch der junge, mittellose Adolf Hitler dabei gewesen ist, wie er Franz Strauss später in Bayreuth erzählt hat, ist ungewiss. Henrike Commichau spielt einen aufgedrehten Richard Strauss, Hanneke van der Paardt erzählt uns Alma Mahlers Geschichte, wie sie sich ganz in den Dienst ihres Mannes stellt, der ihr das Komponieren untersagt hat, und Leon Pfannenmüller alias Gustav Mahler verkriecht sich unter Almas Rock. Leon Pfannenmüller beeindruckt im Lauf des Abends durch seine große Verwandlungskunst. Er tanzt, gibt sich bei Dizzy Gillespies „Salt Peanuts“ ganz dem Rhythmus hin, spielt hinreißend-makaber ein hustendes, tuberkulöses Wien des Jahres 1905 und überzeugt durch Sensibilität und klare Sprach­gestaltung als Dmitri Schostakowitsch im Jahr 1936, dem Urauf­führungs­jahr seiner „Lady Macbeth von Mzensk“. Wir kennen alle die Geschichte von Stalins „Prawda“ -Artikel „Chaos statt Musik“. Die Ängste, die Schostakowitsch danach ausgestanden hat, glaubhaft darzustellen, das gelingt Leon Pfannenmüller ganz ausgezeichnet. Henrike Commichau überzeugt ebenfalls durch ihre Verwandlungs­fähigkeit; vor allem beeindruckt, wie es ihr gelingt, über die Bühne zu wirbeln und in immer neue Rollen zu schlüpfen. Ihr sind die Hosenrollen vorbehalten: vom jungen Richard Strauss über den Journalisten, der Jean Sibelius interviewt, den Hollywood-Produzenten, der aus Schönbergs Musik einen Ausschnitt aus „Pelléas und Mélisande“ als Filmmusik auswählt, bis hin zum Würstchen bratenden, über Musik und Geräusche philosophierenden John Cage. Hanneke van der Paardt sind vor allem die weiblichen Rollen zugedacht. Sie spielt die junge und die „reife“ Alma (Mahler bzw. Mahler-Werfel). Vielleicht ist ihre junge Alma, die sich ganz in den Dienst Gustav Mahlers stellt und dabei ihre Persönlichkeit halb unterdrückt, halb unterdrücken lässt, und auch die reife Alma, die selbstbewusst antisemitische Klischees verkündet, mehr „Rollenskizze“, als „Rollenporträt“; ganz ausgezeichnet gelingt es ihr, den schweigsamen Sibelius zu verkörpern und die von dessen Frau geschauten finnischen Landschafts­bilder in Sprachbilder zu übersetzen, zu denen Marius Sima die entsprechenden Passagen aus Jean Sibelius‘ Violinkonzert spielt. Hier verschmelzen Wort und Musik regelrecht.

Je mehr die Reise durch die Musik­geschichte des 20. Jahrhunderts fortschreitet, desto klarer wird die Struktur der Aufführung, aber desto heterogener werden auch die Erzählungen. Die Skandale zu Beginn und zur Mitte des 20. Jahrhunderts sind bereits zu Geschichten geronnen, die sich zu Legenden verfestigt haben. Eine dieser Geschichten erzählt von Maria Judina, der großartigen russischen Pianistin. Stalin soll ihre Interpretation von Mozarts Klavierkonzert in A-Dur (KV 488) im Rundfunk gehört haben. Er verlangte nach der Schallplatte, die es aber nicht gab. Innerhalb einer Nacht wurde das Konzert eingespielt. Die Schallplatte wurde in nur einem Exemplar gepresst. Stalin entlohnte die Judina fürstlich. Sie bedankte sich in einem Brief, in dem sie ihm schrieb, sie würde für seine Seele beten, Gott um Verzeihung für seine Sünden bitten und das von Stalin empfangene Geld der Kirche spenden. Ihr geschah nichts. Camelia Sima zitierte aus dem Brief der Judina. Beklemmende Stille im Publikum!

Simon Gaudenz und Henrike Commichau, Foto: Joachim Dette

Je mehr sich der Abend der Gegenwart näherte, desto ungeformter wurden die Erzählungen, desto mehr verzweigte sich der Strom der Musik­geschichte in ein Delta. Mit „Musik – Etappen einer Skandal­geschichte“ ist nicht nur eine Kooperation von Theaterhaus und Jenaer Philharmonie gelungen, sondern es ist zugleich durch das In-Einander-Wirken von Wort, Musik, Spiel und Bewegung ein unter­haltsamer Theaterabend auf hohem Niveau entstanden. Die enge Zusammenarbeit von Lizzy Timmers (Regie) mit Chefdirigent Simon Gaudenz und Arrangeur David Riniker hat dazu entscheidend beigetragen. Ebenso das Zusammenspiel von Schauspieler*innen und Musiker*innen. Nadja Sofie Eller sorgte für einen klaren Bühnenraum, der bestens geeignet für wechselnde Schauplätze war, und Cornelia Stephan für fantasievolle Kostüme, in denen Henrike Commichau, Hanneke van der Paardt und Leon Pfannenmüller wechselnde Figuren glaubhaft verkörperten.

Sehr beeindruckend war, wie unter der Leitung von Simon Gaudenz die sieben Instrumentalist*innen der Jenaer Philharmonie ein Klangbild erzeugten, das wunderbar klar und transparent war, das große Orchester ahnen, aber nicht vermissen ließ. Zugleich hatten Christof Reiff (Strawinski, Copland), Alma-Sophie Starke (Lutosławski) sowie Camelia und Marius Sima (Quatuor pour la fin du temps von Olivier Messiaen) starke Solo-Auftritte. Regisseurin Lizzy Timmers war gut beraten, am Ende des Stückes die Musik selbst sprechen zu lassen. Weit oben im Bühnenrund spielten Erdmute Geuther und Christof Reiff eine Passage aus „Torso“, dem Stück, das Andrea Lorenzo Scartazzini Mahlers 1. Sinfonie vorangestellt und das Simon Gaudenz mit dem Orchester der Jenaer Philharmonie 2018 uraufgeführt hatte. Damit war der Bogen in die Vergangenheit geschlagen und der Blick in die Zukunft geöffnet.

„Musik – Etappen einer Skandalgeschichte“ war, nein, kein Skandal, aber sehr niveauvolles, unterhaltsames Musiktheater. Wer sich in Jena und darüber hinaus für Musik und Theater interessiert, sollte eine der nächsten Vorstellungen besuchen!

Dr. Dietmar Ebert

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