Mahler-Scartazzini-Zyklus VI am 23.03.2023
Riesenbeifall, Bravos und stehende Ovationen
Simon Gaudenz hat einmal den Mahler-Scartazzini-Zyklus mit einer Gipfelbesteigung verglichen. Nun liegt mehr als die Hälfte des schwierigen, in die Höhe führenden Weges hinter dem Philharmonischen Orchester Jena, seinem Chefdirigenten und seines COMPOSERS IN RESIDENCE Andrea Lorenzo Scartazzini. Um es gleich vorwegzunehmen: Sowohl die neue CD der Jenaer Philharmonie mit Scartazzinis „Incantesimo“ und „Einklang“ sowie der 4. und 5. Sinfonie von Gustav Mahler, die beim renommierten Label Odradek erschienen ist, als auch die Uraufführung von „Omen“ und die tief bewegende Interpretation von Gustav Mahlers Sechster zeigen: Dem Orchester der Jenaer Philharmonie gelingt es ausgezeichnet, die jeder Mahler-Sinfonie vorangestellten Kompositionen Andrea Lorenzo Scartazzinis technisch makellos und ausdrucksstark zu spielen und unter Simon Gaudenz stets aufs Neue zu einem Mahler-Klang zu finden, der im deutschsprachigen Raum, vielleicht sogar darüber hinaus, jedem Vergleich standhalten kann. Das Interesse, das der Mitschnitt des Gastspiels der Jenaer Philharmonie zur Eröffnung der Gustav Mahler Musikwochen 2022 in Toblach auf YouTube findet, spricht ebenfalls für die Strahlkraft des Mahler-Scartazzini-Zyklus.
Zu Beginn des Konzerts am vergangenen Donnerstag spielte das Jenaer Philharmonische Orchester „Einklang“ von Andrea Lorenzo Scartazzini. Dieses Stück strahlte Ruhe, Frieden und Erhabenheit aus. Simon Gaudenz ließ „Einklang“ direkt in Scartazzinis neues Stück „Omen“ hinübergleiten. Aus einem „Zustand zeitloser Innigkeit“ erhob sich wie ein Omen eine Stelle aus 13 Akkorden. Sie wurden sieben Mal gespielt, gesummt und strebten wie eine spiralförmige Melodie nach oben. Vor allem in den Holzbläsern breitete sich Unruhe aus, die sich auch durch den fein dosierten Einsatz von Schlaginstrumenten immer mehr zu einer Alarmstimmung steigerte und mit einem orchestralen Aufschrei in den straffen Marschrhythmus fiel, mit dem Mahlers Sechste beginnt. Mit „Omen“ wirft Scartazzini einen Blick voraus auf künftiges Unheil, das im Finalsatz kulminiert. So entstand eine Stimmung, durch die Mahlers persönlichste Sinfonie, seine „Tragische“ eine sehr prägnante Physiognomie erhielt. Das Jenaer Philharmonische Orchester spielte „Einklang“, „Omen“ und Gustav Mahlers Sechste mit bewundernswerter Souveränität und atemberaubender Hingabe und Intensität. Simon Gaudenz verstand es wunderbar, die großen Bögen der Kompositionen zu spannen und eine riesige Fülle orchestraler Details aufleuchten zu lassen.
Wie nach dem orchestralen Aufschrei in „Omen“ die letzten marschartigen Takte in den strengen Marschrhythmus des Kopfsatzes übergingen, das war eine Meisterleistung des Orchesters. In den großen Mahler-Sinfonien sind es vor allem die Ecksätze, in denen sich eine schier unglaubliche Entwicklung vollzieht. Vielleicht lassen sich die im Allegro energico angeschlagenen Themen als musikalische Ausdrucksformen von „Weltgetriebe/Weltgetümmel“ und „Fluchtgedanken“ interpretieren. Nach deren Entfaltung wird mit dem „Alma“-Thema eine Art Kontrapunkt gesetzt, und es werden „Inseln der Idylle“ beschworen. Diese „Verwandlung der Welt durch Liebe“ ist für Mahler immer auch mit Naturschilderungen verbunden. Schon im ersten Satz zeigten sich alle Instrumentengruppen in Hochform, und Simon Gaudenz gelang es großartig, nicht nur den Klang in ausgewogener Balance zu halten, sondern auch die Instrumentalistinnen und Instrumentalisten zu nie nachlassendem, ausdrucksstarkem Spiel zu inspirieren. Das gilt ebenso für das liedhafte Andante moderato, dessen lyrischer Schönheit das Orchester eine wunderbar bewegende Klanggestalt verlieh. Auch hier waren wieder Kuhglocken und -glöckchen zu vernehmen. Sie erinnerten an den Satz Gustav Mahlers, dass es die Kuhglocken und die Kirchenglocken seien, die man als Letztes höre, wenn man in die Berge steige. Vielleicht ist dieser Satz eine imaginierte oder traumhaft assoziierte Wanderung in alpenländischer Landschaft, die trotz aller „Realistik“ den Reiz des Geheimnisvollen und Rätselhaften in sich birgt.
Im Scherzo vermochten Simon Gaudenz und das Jenaer Philharmonische Orchester jene doppelbödige Stimmung auszudrücken, die dadurch entsteht, dass die elementaren Themenmodelle des Kopfsatzes durch kontinuierliche Tanzrhythmen ironisiert werden. Das wirkte, wie von Mahler intendiert, skurril, denn hinter dem Gestus der Behaglichkeit und der Maske der Biederkeit scheinen die Dämonen des Lebens zu tanzen.
Es ist vor allem der Finalsatz mit den Vortragsbezeichnungen Sostenuto – Allegro moderato – Allegro energico, der einem Orchester alles abverlangt. Mahler selbst sprach davon, dass er mit seiner sechsten Sinfonie sein Leben „anticipando musiziert“ habe. Eben das vermochte das Orchester der Jenaer Philharmonie in musikalischen Ausdruck zu verwandeln, alle Aufbrüche, alle Erfüllungen und überströmenden Glücksgefühle, aber auch alle schmerzvollen Abstürze waren hör- und nachvollziehbar. Das begann gleich zu Beginn des Satzes. Da scheint es so, als ob dem Hörer der Boden unter den Füßen weggezogen würde. Im folgenden Widerstreit zwischen immer wieder entstehenden chaotischen Passagen und den Versuchen zielstrebiger Entwicklung glaubte man sich den Wechselfällen des Lebens ausgesetzt. Wie Ausrufezeichen, Winke des Schicksals oder eben als wiederkehrendes „Omen“ ertönten die zwei Hammerschläge (René Münch). Nach einer resignativen Coda endete die Sinfonie mit einem a-Moll-Akkord. Der österreichische Germanist, Theater- und Musikwissenschaftler Gerhard Persché hat geschrieben, der a-Moll-Akkord falle „wie ein unerbittlicher Vorhang über die Endspielszenerie.“
Nach Minuten der Betroffenheit erhob sich ein Riesenbeifall, der allen beteiligten Musikerinnen und Musikern der Jenaer Philharmonie und den vielen Aushilfen galt. Stehende Ovationen und Bravos gab es für alle Instrumentengruppen, die an diesem Abend Vorzügliches leisteten und ein Zusammenspiel praktizierten, wie man es nur wünschen kann. Jubel und Bravorufe gab es für alle Musikerinnen und Musiker, die mit kleinen Soli und im Orchesterspiel sich ganz in den Dienst der Werke stellten. Ein besonders herzlicher Applaus galt Simon Gaudenz für seine kongeniale Interpretation der beiden Werke Scartazzinis und für sein Dirigat von Mahlers „Tragischer“, in dem alles durchdacht war, kleinste Details Beachtung fanden und ein riesiger sinfonischer Bogen geschlagen wurde, sodass ein phantastischer Mahler-Sound entstand, der internationale Vergleiche nicht zu scheuen braucht. Andrea Lorenzo Scartazzini erhielt für „Einklang“ und die Uraufführung von „Omen“ Bravorufe und langen herzlichen Beifall. Das war ein Abend im voll besetzten Jenaer Volkshaus, der Herz und Verstand tief bewegte und lange in Erinnerung bleiben wird.
Doch schon am Freitag, dem 12. Mai geht es weiter mit der „Gipfelbesteigung“. Dann wird Andrea Lorenzo Scartazzinis „Orkus“ uraufgeführt und Gustav Mahlers 7. Sinfonie in e-Moll erklingen. Es bleibt spannend!
Dr. Dietmar Ebert