Simon Gaudenz hat ein­mal den Mah­ler-Scar­taz­zini-Zyk­lus mit einer Gip­fel­be­stei­gung ver­gli­chen. Nun liegt mehr als die Hälfte des schwie­ri­gen, in die Höhe füh­ren­den Weges hin­ter dem Phil­har­mo­ni­schen Orches­ter Jena, sei­nem Chef­di­ri­gen­ten und sei­nes COM­PO­SERS IN RESI­DENCE Andrea Lorenzo Scar­taz­zini. Um es gleich vor­weg­zu­neh­men: Sowohl die neue CD der Jenaer Phil­har­mo­nie mit Scar­tazzinis „Incan­te­si­mo“ und „Ein­klang“ so­wie der 4. und 5. Sin­fo­nie von Gus­tav Mah­ler, die beim renom­mier­ten Label Odra­dek er­schie­nen ist, als auch die Urauf­füh­rung von „Omen“ und die tief be­we­gen­de Inter­pre­ta­tion von Gust­av Mah­lers Sechs­ter zeigen: Dem Orches­ter der Jenaer Phil­har­mo­nie gelingt es aus­ge­zeich­net, die jeder Mah­ler-Sin­fo­nie voran­ge­stell­ten Kom­posi­tio­nen Andrea Lorenzo Scar­taz­zinis tech­nisch makel­los und aus­drucks­stark zu spie­len und unter Simon Gau­denz stets aufs Neue zu einem Mah­ler-Klang zu finden, der im deutsch­spra­chi­gen Raum, viel­leicht sogar da­rü­ber hinaus, jedem Ver­gleich stan­dhal­ten kann. Das Inter­esse, das der Mit­schnitt des Gast­spiels der Jenaer Phil­har­mo­nie zur Eröff­nung der Gus­tav Mah­ler Musik­wo­chen 2022 in Tob­lach auf YouTube findet, spricht eben­falls für die Strahl­kraft des Mah­ler-Scar­taz­zini-Zyklus.

Zu Beginn des Kon­zerts am ver­gan­ge­nen Don­ners­tag spielte das Jenaer Phil­har­mo­ni­sche Orches­ter „Ein­klang“ von Andrea Lorenzo Scar­taz­zini. Dieses Stück strahlte Ruhe, Frie­den und Erha­ben­heit aus. Simon Gau­denz ließ „Ein­klang“ direkt in Scar­taz­zinis neues Stück „Omen“ hin­über­glei­ten. Aus einem „Zu­stand zeit­loser Innig­keit“ erhob sich wie ein Omen eine Stelle aus 13 Akkor­den. Sie wurden sie­ben Mal ge­spielt, ge­summt und streb­ten wie eine spi­ral­för­mige Melo­die nach oben. Vor allem in den Holz­blä­sern brei­tete sich Un­ru­he aus, die sich auch durch den fein dosier­ten Ein­satz von Schlag­ins­tru­men­ten immer mehr zu einer Alarm­stim­mung stei­gerte und mit einem orches­tra­len Auf­schrei in den straf­fen Marsch­rhyth­mus fiel, mit dem Mah­lers Sechste beginnt. Mit „Omen“ wirft Scar­taz­zini einen Blick vor­aus auf künf­ti­ges Unheil, das im Final­satz kul­mi­niert. So ent­stand eine Stim­mung, durch die Mah­lers per­sön­lich­ste Sin­fonie, seine „Tra­gi­sche“ eine sehr präg­nan­te Phy­sio­gno­mie erhielt. Das Jenaer Phil­har­mo­ni­sche Orches­ter spielte „Ein­klang“, „Omen“ und Gus­tav Mah­lers Sechste mit bewun­derns­wer­ter Sou­ve­rä­ni­tät und atem­be­rau­ben­der Hin­gabe und Inten­si­tät. Simon Gau­denz ver­stand es wun­de­rbar, die gro­ßen Bögen der Kom­po­si­tio­nen zu span­nen und eine rie­si­ge Fülle orches­tra­ler Details auf­leuch­ten zu lassen.

Wie nach dem orches­tra­len Auf­schrei in „Omen“ die letz­ten marsch­ar­ti­gen Takte in den stren­gen Marsch­rhyth­mus des Kopf­sat­zes über­gin­gen, das war eine Meis­ter­leis­tung des Orches­ters. In den gro­ßen Mah­ler-Sin­fo­nien sind es vor allem die Eck­sätze, in denen sich eine schier un­glaub­li­che Ent­wick­lung voll­zieht. Viel­leicht las­sen sich die im Alle­gro ener­gi­co an­ge­schla­ge­nen The­men als musi­ka­li­sche Aus­drucks­for­men von „Welt­ge­trie­be/Welt­ge­tüm­mel“ und „Flucht­ge­dan­ken“ inter­pre­tie­ren. Nach deren Ent­fal­tung wird mit dem „Alma“-Thema eine Art Kon­tra­punkt gesetzt, und es wer­den „Inseln der Idylle“ be­schwo­ren. Diese „Ver­wand­lung der Welt durch Liebe“ ist für Mah­ler immer auch mit Natur­schil­de­run­gen ver­bun­den. Schon im ers­ten Satz zeig­ten sich alle Ins­tru­men­ten­grup­pen in Hoch­form, und Simon Gau­denz gelang es groß­ar­tig, nicht nur den Klang in aus­ge­wo­ge­ner Balance zu hal­ten, son­dern auch die Ins­tru­men­ta­lis­tin­nen und Ins­tru­men­ta­lis­ten zu nie nach­las­sen­dem, aus­drucks­star­kem Spiel zu inspi­rie­ren. Das gilt eben­so für das lied­hafte Andante mode­rato, dessen lyri­scher Schön­heit das Orches­ter eine wun­der­bar bewe­gende Klang­gestalt verlieh. Auch hier waren wie­der Kuh­glo­cken und -glöck­chen zu ver­neh­men. Sie erin­ner­ten an den Satz Gus­tav Mah­lers, dass es die Kuh­glo­cken und die Kir­chen­glo­cken seien, die man als Letz­tes höre, wenn man in die Berge steige. Viel­leicht ist dieser Satz eine ima­gi­nier­te oder traum­haft as­so­zi­ier­te Wan­de­rung in al­pen­län­di­scher Land­schaft, die trotz aller „Rea­lis­tik“ den Reiz des Ge­heim­nis­vol­len und Rät­sel­haf­ten in sich birgt.

Im Scherzo ver­moch­ten Simon Gau­denz und das Jenaer Phil­har­mo­ni­sche Orches­ter jene dop­pel­bö­di­ge Stim­mung aus­zu­drü­cken, die dadurch ent­steht, dass die ele­men­ta­ren The­men­mo­delle des Kopf­sat­zes durch kon­ti­nu­ier­li­che Tanz­rhyth­men iro­ni­siert wer­den. Das wirkte, wie von Mah­ler inten­diert, skur­ril, denn hin­ter dem Ges­tus der Be­hag­lich­keit und der Maske der Bie­der­keit schei­nen die Dämo­nen des Lebens zu tanzen.

Es ist vor allem der Final­satz mit den Vor­trags­be­zeich­nun­gen Sos­te­nuto – Alle­gro mode­rato – Alle­gro ener­gico, der einem Orches­ter alles abver­langt. Mah­ler selbst sprach davon, dass er mit seiner sechs­ten Sin­fo­nie sein Leben „anti­ci­pan­do musi­ziert“ habe. Eben das ver­moch­te das Orches­ter der Jenaer Phil­har­mo­nie in musi­ka­li­schen Aus­druck zu ver­wan­deln, alle Auf­brü­che, alle Erfül­lun­gen und über­strö­men­den Glücks­ge­fühle, aber auch alle schmerz­vol­len Ab­stürze waren hör- und nach­voll­zieh­bar. Das begann gleich zu Beginn des Satzes. Da scheint es so, als ob dem Hörer der Boden unter den Füßen weg­ge­zo­gen würde. Im fol­gen­den Wider­streit zwi­schen immer wieder ent­ste­hen­den chao­ti­schen Pas­sa­gen und den Ver­su­chen ziel­stre­bi­ger Ent­wick­lung glaubte man sich den Wech­sel­fäl­len des Lebens aus­ge­setzt. Wie Aus­rufe­zei­chen, Winke des Schick­sals oder eben als wie­der­keh­ren­des „Omen“ ertönten die zwei Hammer­schläge (René Münch). Nach einer resi­gna­ti­ven Coda endete die Sin­fo­nie mit einem a-Moll-Akkord. Der öster­rei­chi­sche Germa­nist, Thea­ter- und Musik­wissen­schaft­ler Gerhard Persché hat ge­schrie­ben, der a-Moll-Akkord falle „wie ein un­erbitt­li­cher Vor­hang über die End­spiel­szenerie.“

Nach Minuten der Betrof­fen­heit erhob sich ein Rie­sen­bei­fall, der allen betei­lig­ten Musi­ke­rin­nen und Musi­kern der Jenaer Phil­har­mo­nie und den vielen Aus­hil­fen galt. Ste­hen­de Ova­tio­nen und Bra­vos gab es für alle Ins­tru­men­ten­grup­pen, die an diesem Abend Vor­züg­li­ches leis­te­ten und ein Zusam­men­spiel prak­ti­zierten, wie man es nur wün­schen kann. Jubel und Bra­vo­rufe gab es für alle Musi­ke­rin­nen und Musi­ker, die mit klei­nen Soli und im Orches­ter­spiel sich ganz in den Dienst der Wer­ke stell­ten. Ein be­son­ders herz­li­cher Ap­plaus galt Simon Gau­denz für seine kon­ge­nia­le In­ter­pre­ta­tion der bei­den Wer­ke Scar­taz­zinis und für sein Diri­gat von Mah­lers „Tra­gi­scher“, in dem alles durch­dacht war, kleinste Details Beach­tung fan­den und ein rie­si­ger sin­fo­ni­scher Bogen geschla­gen wurde, so­dass ein phan­tas­ti­scher Mah­ler-Sound ent­stand, der inter­na­tio­nale Ver­glei­che nicht zu scheuen braucht. Andrea Lorenzo Scar­taz­zini erhielt für „Ein­klang“ und die Ur­auf­füh­rung von „Omen“ Bravo­rufe und lan­gen herz­li­chen Bei­fall. Das war ein Abend im voll besetz­ten Jenaer Volks­haus, der Herz und Ver­stand tief bewegte und lange in Er­in­ne­rung blei­ben wird.

Doch schon am Frei­tag, dem 12. Mai geht es wei­ter mit der „Gipfel­be­stei­gung“. Dann wird Andrea Lorenzo Scar­taz­zinis „Orkus“ urauf­ge­führt und Gus­tav Mah­lers 7. Sin­fo­nie in e-Moll erklin­gen. Es bleibt spannend!

Dr. Dietmar Ebert

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