Eine musikalische Reise von Wien über Paris nach New York
Wenn »leicht« das Gegenteil von »seicht« ist, dann wird das Neujahrskonzert zu einem musikalischen Fest
Aufgrund einer Entscheidung des Krisenstabs der Stadt Jena können zurzeit leider keine Konzerte der Jenaer Philharmonie im Volkshaus stattfinden. Das betraf auch die Konzerte zum Jahreswechsel. Sehr schade, denn sie hätten dem Jenaer Publikum Freude bringen und ein Zeichen der Ermutigung setzen können.
Live und mit den üblichen strengen Sicherheitsvorkehrungen fanden die Neujahrskonzerte am 2. Januar im Kulturhaus Weißenfels und am 6. Januar im Arnstädter Theater im Schlossgarten vor begeistertem Publikum statt. Das ist Grund genug, einmal zu sagen, dass das Jenaer Philharmonische Orchester auch außerhalb Jenas, gleichsam als Reiseorchester, in kleineren Städten in Thüringen und Sachsen-Anhalt regelmäßig für gute und gut besuchte Konzerte sorgt. So auch in Weißenfels und Arnstadt. In beiden Städten war die Programmfolge identisch, in beiden Städten wurden die Jenaer Philharmonie, ihr Chefdirigent Simon Gaudenz und ihr ARTIST IN RESIDENCE Benjamin Appl stürmisch gefeiert; vielleicht brauchte das Publikum in Weißenfels etwas länger, um „warm“ zu werden, vielleicht kam die fast kammertheatralische Situation in Arnstadt den Jenaer Mitwirkenden entgegen, und es gelang ihnen schneller, mit musikalischem Witz und Esprit zu agieren. Sie wirkten etwas entspannter und cooler als in Weißenfels.
Kaum hatte Simon Gaudenz den Dirigentenstab gehoben und die ersten Takte der Ouvertüre zu Johann Strauss’ weltberühmter Operette „Die Fledermaus“ waren verklungen, so sprang schon der Funke der Begeisterung aufs Publikum über. Bald hatte der Walzertakt die Herzen der Besucherinnen und Besucher in Weißenfels und Arnstadt erobert, und es war klar: Der Abend würde ein Fest des Rhythmus und des Tanzes werden. Aber auch des Operettenliedes und des Musical-Songs, denn gleich nach der „Fledermaus“-Ouvertüre sang Benjamin Appl ein kleines Wienerlied mit dem Titel „In einem kleinen Café in Hernals“. Hernals ist ein Bezirk im Nordosten von Wien und reimt sich ganz wunderbar auf English Waltz. Ich muss bei diesem kleinen Wienerlied immer an die Geschichte seines Schöpfers Hermann Leopoldi denken. Von ihm stammt die älteste Aufnahme des Liedes aus dem Jahr 1932. Und diese Aufnahme ist es sicher gewesen, die er 1938, nachdem er über Dachau ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert wurde, über den dortigen Lagerfunk hörte. Der Komponist Hermann Leopoldi sang für den „Schutzhäftling“ Hermann Leopoldi. Gemeinsam mit dem Librettisten der späten Lehár-Operetten, Fritz Löhner-Beda, schrieb er das „Buchenwald-Lied“. Es gelang Leopoldi, frei zu kommen, und kurz vor dem Krieg in die USA zu emigrieren. In New York entstand mit seiner Bühnen- und Lebenspartnerin Helly Möslein eine Aufnahme vom „Little Cafe Down the Street“. Benjamin Appl sang das Lied vom „kleinen Café in Hernals“ mit ganz leichtem Wiener Einschlag und sehr natürlicher Diktion; im Arnstädter Theater mit seiner guten Resonanz hat er eine Strophe gepfiffen, so, wie man es eben tut, wenn sich ein „Ohrwurm“ im Gehörgang eingenistet hat. Im Operettenlied „Dunkelrote Rosen“ aus Carl Millöckers „Gasparone“ war deutlich zu hören, welche Vorteile es hat, einen Operettenschlager nicht als Mini-Opern-Arie, sondern wie ein Kunstlied zu gestalten. Dann nämlich wird eine kleine Geschichte, und sei sie auch noch so banal, erzählt. Das erfordert sowohl einen natürlichen Gesangsvortrag als auch eine fein nuancierte Wort-Ton-Balance: So überreichte Benjamin Appl die dunkelroten Rosen mit sehr kultiviertem, kantablem Gesang. Er moderierte gemeinsam mit Simon Gaudenz das Programm. Beide erzählten Heiteres und Wissenswertes und erwiesen sich als charmante Plauderer. Simon Gaudenz erzählte, er habe zu den Liedern, Arien und Songs, die Benjamin Appl ausgesucht habe, Orchesterstücke darum herum gebastelt. Er hat hervorragend gebastelt, denn das Programm erwies sich als sehr stimmig und wie aus einem Guss. Das „Perpetuum mobile“ des Walzerkönigs und seine Polka schnell „Auf der Jagd“ fügten sich bestens in den Wiener Teil. Das Jenaer Orchester spielte sie unter der Leitung seines Chefdirigenten so präzis und furios, dass es eine Freude war. „Rhythm is it“, hätte Simon Rattle wohl dazu gesagt.
Von Wien ging die Reise zunächst nach Paris. Benjamin Appl sang verführerisch und mit einer ganz leichten Prise Selbstironie Ralph Erwins Tangolied „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ aus dem Jahr 1929 und traf genau den leichten Ton des Filmschlagers, der für den gleichnamigen Stummfilm mit Marlene Dietrich und Harry Liedtke komponiert war und als zusätzliche Tonspur eingespielt wurde. Der damalige Interpret war kein Geringerer als Richard Tauber. Mit Francis Poulencs „Deux Marches et un Intermède“, komponiert für die Pariser Weltausstellung 1937, setzte die Jenaer Philharmonie einen reizvollen Kontrast. Simon Gaudenz hatte nicht nur gebastelt, sondern auch ein selten gespieltes Stück entdeckt und ins Programm aufgenommen. Danach folgte das Auftritts-Lied des Danilo aus Franz Lehárs „Lustiger Witwe“, das von Benjamin Appl so schön und ausdrucksstark gesungen wurde, dass eigentlich die Pariser Grisetten den Champagner bezahlen sollten.
Im zweiten Teil der musikalischen Neujahrsreise ging es nach New York. Spätestens seit Benjamin Appls sehr empfehlenswerter CD „Heimat“ wissen Musikfreunde, dass neben dem deutschen Liedgut auch das englische und amerikanische zu seinem Repertoire gehört. Wieder gab es selten Gehörtes zu entdecken, so den Orchestermarsch von Eric Coates aus dem Jahr 1940 „Calling all Workers“ oder Ernest Tomlinsons Rhythmic Overture „Highway to the Sun“. Die Jenaer Philharmonie war in diesen beiden Orchesterstücken ebenso in Hochform wie in der dritten Tanzepisode „Times Square: 1944“ aus der Orchestersuite zum Musical „On the Town“, einem frühen Meisterwerk von Leonard Bernstein. Tanzen konnte das Publikum in Weißenfels und Arnstadt nicht, aber der Rhythmus fand trotzdem seinen Weg in die wippenden und federnden Beine. Benjamin Appl zeigte mit „Begin the Beguine“ (Die Beguine ist eine Art Gesellschaftstanz im lebhaften 4/4-Takt, der im 19. Jahrhundert auf den Kleinen Antillen entstand.) aus Cole Porters 1935 uraufgeführtem Musical „Jubilee“ und dem weltbekannten Musicalschlager „On the Street Where you Live“ aus Fredrick Loewes „My Fair Lady“, dass ihm der Musical-Gesang ebenso liegt wie das Wiener Operetten-Lied. Vielleicht war es die Ehrlichkeit des Gefühls und dessen stimmige Dosierung, die seine Songs auszeichnete und das Publikum in beiden Städten ganz besonders berührte. Es wäre ein Leichtes gewesen, beim Lied des Milchhändlers Tevje aus Jerry Bocks Musical „Der Fiedler auf dem Dach“ („Anatevka“) ein bisschen zu übertreiben. Dann wäre es Parodie oder Klamotte geworden. Zudem kennen viele im Osten Deutschlands Sozialisierte die Aufnahme mit Rudolf Asmus aus Walter Felsensteins berühmter Inszenierung an der Komischen Oper Berlin, und für die Jüngeren und überwiegend im Westen Sozialisierten galt die Aufnahme mit Iwan Rebroff als Referenzaufnahme. Es ist also davon auszugehen, dass die Musikfreunde im Theater jedes Wort und jeden Ton kannten. Benjamin Appl fand nun in Weißenfels und Arnstadt zu einer ganz eigenständigen Interpretation: Er lässt den Milchmann Tevje mit Intelligenz und Witz von einem reichen Leben träumen und ihn dabei zum Alltagsphilosophen werden. Benjamin Appl riss mit „Wenn ich einmal reich wär“ das Publikum in beiden Städten zu Beifallsstürmen hin. Zu einem Höhepunkt des Abends wurde, wie er das Lied des Matrosen Gabey, eine Liebeserklärung an New York aus Leonard Bernsteins frühem Geniestreich „On the Town“, gesungen hat: „Lucky to be me“.
Sowohl in Weißenfels als auch in Arnstadt entließ das Publikum Benjamin Appl, Simon Gaudenz und das Philharmonische Orchester Jena erst nach drei Zugaben, „Hoe-Down“ aus Aaron Coplands „Four Dance Episodes from Rodeo“, dem Song „Embraceable You“ aus George Gershwins Musical „Girl Crazy“ und natürlich dem unverwüstlichen „Radetzky-Marsch“ von Johann Strauss (Vater). In Arnstadt gab es noch eine besondere Überraschung: Simon Gaudenz überreichte den Dirigentenstab an Benjamin Appl. Der gab sein Debüt als Dirigent der Jenaer Philharmoniker und dirigierte sehr schwungvoll und ganz vorzüglich den „Radetzky-Marsch“!
Ich wünsche allen Besucherinnen und Besuchern der Jenaer Philharmonie ein vor allem gesundes neues Jahr 2022 und hoffentlich bald wieder Konzerte im Volkshaus, denn auch Städte haben, wenn auch im übertragenen Sinne, ein Immunsystem. Und das braucht Musik und Freude!
Dr. Dietmar Ebert